Das ist die wohl schwierigste Frage für unsere Reise: Wo beginnt, wo endet sie? Der Rhein, die Lahn, der Taunus, die Loreley – das klingt verlockend. Weckt Gefühle und Assoziationen. Zaubert Stimmungen, malt Bilder, komponiert duftig-weiche Klänge. Lässt Natur riechen, Kultur fühlen oder gar schmecken, die Schöpfung erkennen. Erinnerungen wach werden. Also, wo beginnen?
Wir entscheiden uns für jenen sagenhaft weiblichen Reiz der Loreley, der in vergangenen Jahrhunderten des Rheines Schiffer in die Fluten des Stromes riß. Dem wir Autoren und Fotografen uns aber vorgenommen hatten, ganz objektiv und nüchtern beschreibend anzunähern. Wohl wissend, dass es nicht gelingen kann.
Viele Wege führen zur Loreley. Die klassisch-traditionelle Reise ist die mit dem Schiff. Und das tun viele tausend Besucher im Jahr – meist mit der hübschen Weißen Flotte – ,das Loreley-Lied in verschiedensten Sprachen im Bord-Lautsprecher und auf den Lippen. Heinrich Heines Text und dazu Friedrich Silchers Melodien klingen dann wie eine von der ganzen Menschheit gesungene Hymne, wie die „Internationale“ aller Touristen.
„Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ – egal, ob Frage oder Ausruf, ganz gleich, ob in deutsch, französisch, englisch oder japanisch: Das Geheimnis der Loreley symbolisiert heute das Geheimnis des Reisens schlechthin, offenbart den Reiz, Neues zu entdecken, die eigenen und des Landes Grenzen zu sprengen. „Die Luft ist kühl und es dunkelt, und ruhig fließt der Rhein. Der Gipfel des Berges funkelt im Abendsonnenschein.“ So schrieb es Heine. Und das sagt alles.
Wer die Loreley erreichen will, muss zahlreiche Burgen und Schlösser passieren. Doch keine Angst: Zoll oder Wegegeld verlangt niemand mehr – kein Ritter in trutziger Rüstung, kein Adliger oder Kirchenfürst in güldenem Gewand. Der Kellner auf dem Schiffsdeck freilich wird dankbar sein für eine kleine Aufmerksamkeit, wenn er – beispielsweise – den Loreley-Eisbecher serviert. Vielleicht in Verbindung mit einigen Tipps für den kommenden Landausflug. Denn vielerlei Eindrücke warten darauf, eingefangen zu werden. Von Köpfen und Kameras, vom menschlichen und dem magischen Auge.
Und da ist sie dann endlich – 194 Meter hoch, ragt die Loreley verwegen und gleichsam imposant aus dem engen Rheintal. Die dunklen Lastkähne und die freundlich-weißen Passagierschiffe schlängeln sich vorsichtig am Fels entlang. Denn auch im und unter Wasser lauert die Gefahr schroffen Gesteins. Früher waren Lotsen hilfreich zur Stelle, heute gibt’s Navigation per Elektronik. Also, das Schiff auf Kurs halten und bloß nicht ablenken lassen vom majestätischen Anblick des „blonden Felsens“.
Die Zeiten, als die sagenumwobene Dame sich dort oben das Haar kämmte, gar herzzerreißend sang und die ob ihrer Schönheit geblendeten Schiffer in Flut und Tod riß, sind längst vergangen. Im 50er-Jahre-Streifen „Blondinen bevorzugt“ verkörperte Marilyn Monroe dieses „blonde Gift“ auf der Leinwand. Eine leibhaftige Loreley gibt’s heute immer noch. Sie wird alle Jahre wieder gewählt und wirbt mit nicht weniger Charme, doch äußerst friedlich um Gäste aus nah und fern. Für die gesamte Region, für Rheinland-Pfalz. Für ein starkes Stück Deutschland.
Auf den Spuren der Rheinromantik
Bereits die Engländer waren im vergangenen Jahrhundert ganz hingerissen von der Rheinromantik. Passagierschiffe des Inselreiches wähnten den romantischen Rhein als ihr Ziel, gekrönte Häupter gingen an Land. Dichter, Denker, Maler und Komponisten hielten inne. Die Liste der erlauchten Namen liest sich wie ein „Who is who“ europäischer Geschichte. Die Rhein-Romantik wurde vielfach beschrieben und besungen und ist bis heute im „Romantischen Mittelrhein“ oder im „Tal der Loreley“ lebendig – auch wenn der Fluss als Schlagader Mitteleuropas mittlerweile eher als quirlig strömendes Element zu beschreiben wäre. Also: R(h)ein ins Vergnügen!
Keine Frage: Wer jemals das nicht ganz ungefährliche Unterfangen einer Kanufahrt auf dem Strom auf sich nahm, bekam die Majestät, die Urgewalt und Herrschaft des Rheins drohend zu spüren. Geschäftiges Treiben einer Wasser-Autobahn, rasant markiert gar von einem Tragflügelboot. Wie hätte es Heine wohl beschrieben, wie ein Romantiker auf die Leinwand gebannt? Dieser „Rheinpfeil“ ist in der heutigen Zeit des Jetsets für besonders eilige Passagiere gedacht. Vor allem Japaner sausen damit durchs Rheintal, nicht mal das Klicken ihrer Fotoapparate kann mithalten. Eine Burg hüben, eine Burg drüben. Man kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Im Zeitalter von Multimedia: Der Rhein im Zeitraffer – die Rheinreise als Zeitreise.
Das Rheintal von Kaub bis Lahnstein wäre etwas für Burgensammler. Jeden Tag ein neues Gemäuer kennen- und lieben lernen, eine Woche wäre schnell vergangen. Ob die Burg Lahneck in Lahnstein, die Marksburg hoch über Braubach, die Burgen Sterrenberg und Liebenstein über Kamp-Bornhofen (eher bekannt als „Die feindlichen Brüder“), die Burgen Katz und Maus über St. Goarshausen, die Burg Gutenfels über Kaub oder das „Steinerne Schiff“, die Pfalzgrafenstein, mitten im Rhein – da stehen an 43 Stromkilometern unverrückbar Zeugen der Geschichte, unserer Vorfahren. Zeugnisse von Menschen, die noch keine Ahnung hatten von zukünftigen Automobilen, von Ausflügen ins Weltall oder Datenautobahnen. Die Loreley-Burgen-Straße verbindet sie miteinander, und für Public Relations sorgen Burgenfräulein, Rhein-Lahn-Nixe oder das Elslein von Kaub.
Zahlreiche Schlösser, Kirchen und Befestigungsanlagen berichten von einer bewegten, aber sicherlich auch gemächlicheren Zeit. Der Rhein war zunächst einfach nur ein Fluss und weniger eine Wasserstraße. Die Schienenwege rechts und links, die belebten Straßen – sie wären damals als umstrittene Visionen eines Träumers abgetan worden. Zur heutigen Zeit ist der viel besungene „Vater Rhein“ eine Mischung aus Tradition und Moderne, aus Geschichte und Gegenwart, aus Vergänglichem und Zukunft. So oder so gilt er aber als Symbol pulsierender Kommunikation, Spiegelbild internationaler Gastlichkeit, Sinnbild grenzüberschreitenden Denkens, Fühlens, Handelns und Lebens.
Nicht viel anders sah das wohl schon Victor Hugo. Schwärmend schrieb er nieder: „Der Rhein vereint alles, der Rhein ist reißend wie die Rhône, breit wie die Loire, in Felsen gebettet wie die Maas, gewunden wie die Seine, klar und grün wie die Somme, geschichtsreich wie der Tiber, von königsvollem Stolz wie die Donau, geheimnisvoll wie der Nil, von Gold schimmernd wie der Strom Amerikas…“ Hatte da etwa der erste „Europäer“ gesprochen? So wie Hugo haben immer wieder Intellektuelle und Künstler den Rhein zu ihrem Thema gemacht: beschrieben, besungen und gezeichnet. Eine Rheinreise war mehr als „Pflicht“. Kenner und Könner „verschrieben“ sich dem Strom und der von ihm durchschrittenen Landschaft mit Geist und Gunst.
Wen wundert’s, dass die hier lebenden Menschen auf die allabendlich beim Wein gesungene Frage „Warum ist es am Rhein so schön?“ nur eine Antwort wissen: „Darum ist es am Rhein so schön.“ Apropos Wein: Die Römer brachten ihn mit in diese Region. Ganz nach dem Motto: Was man hier anbaut, braucht man nicht über die Alpen zu schleppen. Und somit prägte der Weinbau fortan nicht nur die Menschen, denen rheinischer Frohsinn und Weinseligkeit nachgesagt werden, sondern auch die Landschaft mit ihren geschwungenen Terrassen und Abermillionen Reben.
Rheingold, ein köstlicher Tropfen
Suchten in vergangenen Jahrhunderten noch Abenteurer und Goldwäscher nach dem „Rheingold“, so interpretierte sich dieses Gold später eher als flüssige Kostbarkeit. Wein vom Mittelrhein gilt auch heute noch als besonders kostbares Naß, von der Sonne in oftmals steilen Schieferlagen verwöhnt. Doch leider ist auch der Weinbau dem Lauf der Zeit untertan. Die hervorragenden Steillagen des Mittelrheins sind in den vergangenen Jahren leicht geschrumpft. Zu schwer die Arbeit, zu wenig der Nachwuchs, zu gering das Auskommen. Ein Problem für all jene, welche die typische Kultur-Landschaft des Rheins erhalten möchten. Kein Problem allerdings für Gäste und Einheimische: Sie bekommen nach wie vor ihren edlen Tropfen. Ehrensache!
Glücklicherweise konnte vieles der romantischen Vergangenheit bewahrt werden. Altertümliche Stadtkerne und -mauern kann fast jede der kleinen Gemeinden und Städte vorzeigen. Dass es am Rhein keineswegs immer friedlich zuging, verraten zahlreiche steinerne Zeugen als Inschriften und Gedenktafeln. Sahen Dichter und Denker den Rhein eher poetisch, betrachteten ihn Herrschafter und Staatsmänner fast ausschließlich patriotisch oder politisch. Immer wieder wurde um den Strom gerungen und gestritten. Vielfach besungen und vielfach umkämpft, wechselten sich Waffengerassel und Gläserklirren, Schlachtrufe und fröhliches Gelächter allzuoft in schneller Folge ab. Den Vater Rhein selbst, als Zweigehörnten Flussgott der römischen Mythologie, fragte allerdings niemand.
Wurde der majestätische Fluss in vergangenen Jahrhunderten immer wieder als Grenze angesehen, so stellt er heute zur linksrheinischen Landschaft eher etwas Verbindendes dar. Schon für Johann Bückler alias Schinderhannes – im kleinen Taunusdörfchen Miehlen geboren – schien er kaum Hindernis, als er im Hunsrück Adlige und Begüterte foppte und zum Wohle der Mittellosen um ihre Habe brachte. Eine Brücke fand der Räuberhauptmann zwischen Kaub und Lahnstein nicht. Die suchte auch Feldmarschall Blücher im Jahre 1814 vergebens, als er mit seinen Truppen bei Kaub über den Rhein setzte, um gegen Napoleon anzukämpfen. Natürlich waren auch wir einmal „drüben“, auf der linken Rheinseite. Doch schon bald zog es uns wieder zurück, und wir waren – in jeder Hinsicht – auf der „rechten Seite“.
Schlachten und Scharmützel, Kämpfe und Kriege – das alles ist längst vergangen, aber nicht vergessen. Immer wieder erinnern Jahrestage an diese bewegte Geschichte im Rheintal. Und die kleinen Heimat- und Stadtmuseen halten sie wach, gewissermaßen als „Wacht am Rhein“ in neuer Sinngebung. Die prächtige Obstbaumblüte rund um Osterspai, der köstliche Wein, die gastlichen Weinstuben und Herbergen zeugen heute von friedlicher Kultur. Und dickwandige Trutzburgen und Stadtmauern bieten inzwischen eher Kühle und Schatten in sommerlicher Hitze, als Schutz vor hitzigen Attacken des Feindes.
Heiß her geht’s dann bestenfalls mal auf der Freilichtbühne der Loreley. Dort geben sich seit Jahr und Tag Stars und Sternchen von Pop- und Rockmusik, von Klassik und Moderne ein Stelldichein. Tausende Fans zünden bei untergehender Sonne hoch über dem Rheintal ihre Wunderkerzen an. „It’s all over now“ – die Loreley als Sinnbild für friedliches Zusammenleben, grenzüberschreitendes Denken. Für Toleranz und Freude an Miteinander und Gemeinsamkeit.
Ja, der Rhein und die Loreley. Ganz so sachlich und nüchtern vermochten wir dieses Fleckchen Erde eben doch nicht zu skizzieren. Die Landschaft, die Leute – sie haben uns wohl etwas den Kopf verdreht. Den im Rhein versteckten Nibelungenschatz, den haben wir nicht gefunden. Dafür einen Schatz an Landschaft und Menschen, Kultur und Geschichte. Höchste Zeit für neue Eindrücke, Zeit für einen Abstecher. Wir reisen an die Lahn…
Entlang der lieblichen Lahn
Sie zu verfehlen ist kaum möglich. Sichtbar schmaler als der Rhein, trägt sie 242 Kilometer weit und über einen Höhenunterschied von 567 Metern ihre Wasserlast vom Ort der Quelle bei Bad Laasphe im Rothargebirge bis zu ihrer Mündung. Und die liegt in Lahnstein. Genauer gesagt in „Lahnstein am Rhein“, womit die Einwohner dieser hübschen Stadt wirkungsvoll unterstreichen, dass sie an gleich zwei Flüssen zu Hause sind.
Lange Zeit sorgsam aufgeteilt in Nieder- und Oberlahnstein, ist diese Stadt inzwischen „vereinigt“. Das Martinsschloss südlich und das Johanneskloster nördlich markieren in etwa die Flussmündung. Unsere Reise wird von hier aus 56 Kilometer weiter flussaufwärts bis in die Grafenstadt Diez führen. Doch schon in Lahnstein, nur wenige hundert Meter nach der Flussmündung, verspüren wir so etwas wie Untreue gegenüber Vater Rhein. Werden wir bereits am ersten historisch anmutenden Gebäude „schwach“ und geben uns den Gelüsten des Gaumens hin? Wie lautet doch eine der zahllosen zotigen Strophen? „Frau Wirtin hat auch einen Gast…“ Obwohl es gleich mehrere auf dem Weg zur Lahnquelle gibt, dieses „Wirtshaus an der Lahn“ soll wohl das ursprüngliche, das historische sein. Oder ist es vielleicht doch jenes in Dausenau?
Unser schlechtes Gewissen wird erheblich beruhigt, als wir erkennen, dass schon ganz andere Zeitgenossen hier logierten. Johann Wolfgang Goethe zum Beispiel. Nun könnte man mit Fug und Recht fragen: Wo war der nicht? Aber immerhin, er fühlte sich anscheinend in diesem Wirtshaus wohl. Und dass der große Dichter Appetit auf Ambiente und Lust auf Lukullisches hatte, ist wohl unstreitig. Manch einer tut’s ihm nach.
Weiter flussaufwärts wird es wieder etwas ruhiger, obwohl nicht wenige Autos – mit Fahrrädern oder Paddelbooten bepackt – auf der hier noch vereinten „Bäderstraße“ und der „Lahn-Ferien-Straße“ nach Osten streben. Und dann kommt es: Nach und nach entdecken wir die Idylle dieses Flusses, so wie sie uns immer wieder beschrieben wurde. Als Geheimtipp für naturverbundenen Urlaub, für Freizeit mitten im Grünen, als Symbiose zwischen Wald und Wasser. Bloß nicht weitersagen! Und mit dem Ausdruck größten Bedauerns streichen wir den Begriff des „Abstechers“ an die Lahn. Die Lahn ist kein solcher, das wäre abwertend. Sie ist – natürlich rein geografisch gesehen – ein Seitensprung. „Eau – là là“ – und was für einer!
Die Lahn öffnet sich auf den nächsten Kilometern immer mehr zu einer zauberhaften Idylle. Der zärtlichste Nebenfluss des Rheins lädt ein, entdeckt zu werden. Die Lahn wird zum Naturereignis, den Rhein haben wir vergessen. Vorübergehend zumindest. Wer diesen Fluss, diese Landschaft kennen lernen möchte, steigt am besten aufs Fahrrad, klettert ins Paddelboot oder schnürt die Wanderschuhe. An der Lahn ist alles möglich, und die Lahn braucht – ja sie verdient – Ruhe. Wir sind verblüfft, innerhalb so kurzer Zeit auf eine völlig andere Landschaft zu stoßen. Erst der mächtige Rhein, dann diese zierliche Lahn!
Ihre Proportionen, diese Rundungen, die steil aufsteigenden Berge rechts und links, diese zur Mündung hin flacher, weiter und einladender werdende Landschaft. Herrlich. Ja, die Lahn ist schon die richtige Wahl. Nicht so groß und ungestüm wie Vater Rhein, nicht so „rinnsalmäßig“ wie andere Wasserläufe, die weder Bach noch Fluss sind. Nach jeder Flussbiegung entdeckt man Neues, Ungeahntes. Wir sind verliebt! Die Lahn ist ein richtig junges Ding – oder etwa nicht?
Ganz so jugendlich, wie sich dieser Fluss gibt, ist er indes nicht. Das stellen wir sehr schnell fest. Er hat sich gut gehalten, doch hat er auch „Erfahrung“. Über die stolpern wir gleich nach wenigen Metern in Gestalt einer Schleuse unmittelbar nach Lahnstein. Eine Schleuse? Doch wo sind die großen Schiffe, wo die Lastkähne? Bisher sahen wir lediglich kleine Motor- oder Paddelboote. Schleusen nur für Freizeitkapitäne?
Natürlich haben wir uns sofort erkundigt, haben erfahren, dass die Lahn vor rund 400 Jahren erstmals vertieft wurde. Damals legte man Leinpfade an, und mühsam zogen Pferde die schweren Lastkähne flussauf- und abwärts. Der „Säckerbrunnen“ in Diez wird uns nochmals an das schweißtreibende Be- und Entladen erinnern. Heute strampeln die Touristen mit ihren Fahrrädern, bestenfalls bepackt mit Picknickkörben, darüber. Ab Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die Lahn Flusskilometer für Flusskilometer ausgebaut. Die Lahntalbahn schnaufte wenig später durch die Auen. Seit 1981 ruht der Güterverkehr zu Wasser. Und heute profitieren Motorboote und Yachten, Paddel- und Ruderboote, die weißen Passagierschiffe insgesamt elf Mal zwischen Diez und Lahnstein vom Service des Auf- und Abschleusens. Wo gibt’s das sonst noch?
Und schon stoßen wir auf ein weiteres Geheimnis, auf neue Fragen. Und suchen Antworten. Was wurde auf diesem schönen Fluss bloß transportiert? Zwischen Lahnstein und Bad Ems entdecken wir auf einer Halbinsel Schornsteine und ein imposantes Bauwerk. Ganz in Ziegelstein gemauert, halb verfallen und halb erhalten, berichtet dieses Industriedenkmal der „Nieverner Hütte“ von vergangenen Jahrzehnten harter körperlicher Arbeit. Und just am Eingang zur Kreis- und Kurstadt Bad Ems folgt ein weiteres Bauwerk dieser Art, die alte „Energiezentrale“. Auf der Insel Silberau schließlich erfahren wir, dass die Region der Lahn (doch auch die des Rheins) lange Zeit als das Bergbaugebiet weit und breit galt. Erze, Silber, Blei und Schiefer und an der oberen Lahn gar „Lahnmarmor“. Immer wieder werden wir bis weit hinauf nach Holzappel und Diez auf Zeugen dieses meist unterirdischen Treibens stoßen.
Nun wissen wir es: Dort, wo früher hart geschuftet wurde, locken heute Natur und technische Überbleibsel zu Freizeitgestaltung und Erholung. Und dort, wo auf der Insel Silberau etliche Bergwerksbetriebe angesiedelt waren, wacht heute der Landrat mit seinen Mitarbeitern über das Wohl dieser Region. Der Wandel unserer Gesellschaft hin zur Dienstleistungs- und Freizeitgesellschaft: Vergangenheit und Entwicklungen werden begreiflich, man muss nur genau hinschauen.
Bad Ems, die ehemalige Sommer-Hauptstadt
Schon sind wir mitten in Bad Ems, jener hübschen Stadt rechts und links der Lahn, die herrschaftliche Villen an ihren Alleen aufgereiht hat wie auf einer Perlenkette. Dazwischen das einladende Kurhaus, der Quellenturm, Schloss Balmoral, das Gebäude der „Vier Türme“, der Kaisersaal, der Marmorsaal, das Kurtheater, die Kurbrücke, der Bismarckturm, die älteste Spielbank Deutschlands… Schluss der Aufzählung. Dieser Reisebericht soll erste Eindrücke vermitteln, alles weitere ist Aufgabe eines Historikers. Und der kommt in diesem Buch auch noch zu Wort.
Dabei gilt Bad Ems geradezu als ein Feuerwerk der Geschichte. Könige, Kaiser und Herzöge kehrten hier ein. Gekrönte Häupter speisten in den vornehmen Häusern und erholten sich von ihren anstrengenden Staatsgeschäften. Kaiser Wilhelm residiert hier noch heute – allerdings in weißem Marmor geschlagen im Kurpark. Und schon kommen uns Goethe und seine Begleiter Lavater und Basedow entgegen. Natürlich nur in der Geschichte. Denn von hier aus traten sie 1774 ihre berühmt gewordene Rheinreise an.
Zu diesem Zeitpunkt muss auch die Blüte der heutigen Kurstadt begonnen haben. Emser Salz, Emser Pastillen, Mineralwasser und Quellen – man wusste diese Mittel und Mittelchen schon damals zu schätzen. Heute gibt’s dafür das Kurmittelhaus. Auch für Bad Ems existiert so etwas wie eine Hit-Parade der Dichter und Denker, Musiker und Komponisten – allen voran die Sängerin Henriette Sontag, die schwedische Nachtigall Jenny Lind, der Komponist Carl Maria von Weber, die Interpretin Clara Schumann, der große Klaviervirtuose Franz Liszt, der russische Romancier Dostojewski und natürlich Richard Wagner und Jaques Offenbach.
Alles zusammen machte Bad Ems zur „Sommerhauptstadt Europas“. Zum „Paris an der Lahn“. Zum heimlichen Regierungs- und Amtssitz. Und tatsächlich wurde an diesem friedlichen Fluß auch über Krieg und Frieden entschieden. So im Juli 1870, als die verfälschte „Emser Depesche“ den deutsch-französischen Krieg auslöste. Exakt diese Stelle in der Kurpromenade ist heute der „Platz der Partnerschaften“. Welch ein Wandel.
Natürlich wundern auch wir uns zunächst über jene Kirche, links der Lahn, die sich mit dicken, blauen Zwiebeln auffällig von den übrigen Gotteshäusern abhebt. Die russisch-orthodoxe Kirche erinnert an hier kurende Zaren. Die frühere Bedeutung der Ost-West-Achse der Lahn entlang wird hier lebendig gehalten. Heute wird auf dieser Allee alljährlich Deutschlands größter Blumenkorso präsentiert. Ein Blütenmeer inmitten bauhistorischer Blüten.
Dausenau reiht sich als weitere Perle der Lahn an diese Entdeckung an. Eine bezaubernde Ortschaft mit entzückendem Flusspanorama und einem liebevoll restaurierten Rathaus. Das geschäftige Treiben der Lahn ebbt hier ab, wird um Nassau herum aber nochmals heftiger. Auch diese Stadt quillt über vor Geschichte und Geschichtchen. Nicht nur, dass hier Freiherr vom und zum Stein – hoch oben steht er unterhalb der Burg Nassau – für Reformen stritt und schrieb und als „Erfinder“ der kommunalen Selbstverwaltung gilt. Auch die Grafen von Nassau prägten Land und Landschaft, setzten Zeichen in der Geschichte. „Nassauern“ Sie doch mal in dieser schönen Stadt, die zugleich „Hauptstadt“ des weiten Naturparks Nassau ist, und dessen Nassauer Löwe ernst und streng auf dem Wappen des hiesigen Kreises prangt.
Dann, hinter dem Luftkurort Nassau, zeigt die Lahn urplötzlich ein ganz neues Gesicht. Die von Ansiedlungen und menschlichem Treiben aufgeworfenen Falten werden von der Natur liebevoll geglättet. Kloster Arnstein lugt inmitten idyllischer Ruhe aus einem bewaldeten Berg über den Fluss. Weinähr und Obernhof erinnern mit Rebenüberfluteten Hängen daran, dass auch hier das Winzerhandwerk und steile Lagen wie der „Goetheberg“ Tradition haben. Ab Laurenburg (in einem Landstrich namens Esterau) wird es dann vollends einsam. Von der Natur geschützt, geht es hier bestenfalls mit Bahn oder Paddelboot weiter. Vorbei an felsigen Hängen, an Waldrücken, die in die Lahn zu stürzen drohen, bis nach Balduinstein (alles überblickend die Schaumburg wie eine Traumburg) und von dort nicht weniger gottverlassen über Fachingen und seine weltberühmte Quelle zur Grafenstadt Diez.
Gleich zwei Schlösser – das über der Stadt thronende Grafenschloss und das nord-östlich gelegene Schloss Oranienstein – warten auf uns. Pastor Felke hat hier seine nach ihm benannte Kur und den Gleichklang zwischen Körper und Geist ersonnen. Ach ja, fast hätten wir es vergessen: Ausländische Gäste verschiedenster Nationen zählt der Rhein das ganze Jahr über. Doch in und um Diez, an der Laurenburg und im Nassauer Land fallen immer wieder Autos mit holländischem Kennzeichen auf. Diese Menschen wandeln auf den Spuren ihres Königshauses Oranien-Nassau, während die Diezer alljährlich „ihrer“ niederländischen Königin ganz artig zum Wiegenfest gratulieren.
In Diez biegen wir rechts ab Richtung Süden. Die Aar, ein bezauberndes Flüsschen, führt – begleitet vom Rad- und Wanderweg – durch ländliche Idylle, mitten durch unzählige Gemüsegärten ambitionierter Nebenerwerbs- und Freizeitbauern. Vorbei geht’s an der Ruine Ardeck, an Hahnstätten und der weit über Burgschwalbach hinausragenden gleichnamigen Burg. Wir sind „tief im Osten“ unseres Reisegebietes und wieder einmal (oder immer noch?) begeistert. So oder so ähnlich muss Landleben auch damals gewesen sein.
Taunus, so weit das Auge reicht
Nur wenige Kilometer bis Zollhaus und wir werden erfahren, wie das Stück Land zwischen Rhein und Lahn ausschaut. Und jetzt stoßen wir zum dritten, zum letzten Mal auf unserer Reise in Neuland, in eine neue Landschaft vor. Der Taunus mit seinem aufgelockerten Bild aus hügeligen Wäldern, Feldern, Wiesen und Weiden, zerfurcht von wildromantischen Bachtälern wie das Jammertal (wen macht dieser Name nicht neugierig?) und nur mäßig zergliedert durch kleine Dörfchen. Dieses Bild bietet sich uns – ganz gleich, ob um Katzenelnbogen oder Nastätten, im „Einrich“ oder im „Blauen Ländchen“. Geheimnisvolle Namen, die weit zurückreichen in die Zeit unserer Vorfahren. Die Grafen von Katzenelnbogen prägten als bedeutendes Adelsgeschlecht das Leben hier bis an den Rhein – daher der Name „Burg Katz“. Der „Einrich“ bedeutet sinngemäß „ein Reich“, und das Leben und Arbeiten des „Blauen Ländchen“ wird vor allem im Nastätter Heimatmuseum als Land der Blaufärber überliefert.
Natur pur soweit das Auge reicht, und uns wird klar: Hier sagen sich zwar Fuchs und Hase „Gute Nacht“, doch wir haben Gelegenheit, dabei zu sein. Dieser Taunus bietet schon wundervolle und wandervolle Tage zugleich. Er scheint unerschöpflich an Wegen und Pfaden. Und wer tatsächlich nur mit dem Auto unterwegs sein möchte, für den gilt die Devise: Anhalten, aussteigen und staunen! Zumindest in Holzhausen sollte der Automobilist das tun. Denn hier wurde – in einem Museum festgehalten – Nikolaus August Otto geboren, der die vier Takte der Auto-Generation, den „Otto-Motor“, erfunden hat. Sein Motor brachte die Welt in Bewegung. Ohne ihn würden wohl die meisten Menschen gar nicht hier herfinden.
Zeitlich gesehen Jahrhunderte entfernt, räumlich gesehen nur wenige Kilometer weit weg, wartet ein ganz anderes Zeitzeugnis: Das Römerkastell, Bestandteil des berühmten Grenzwall, des Limes, gilt als gut erhaltenes Kulturdenkmal. Immer wieder stoßen Wanderer quer durch den Taunus bis hinein in den Westerwald auf Reste der bedeutenden Grenzanlage.
Unmittelbar an diesem Kastell, am Grauen Kopf, schnuppern wir dann Höhenluft. Wir spüren, dass die Luft hier oben – 543 Meter über dem Meeresspiegel – Kopf und Geist beflügelt. Dazu immer wieder der weite Blick über Land und Landschaften, auf kleine Dörfer, die in ihrer Mitte stolz ihr Kirchlein vorzeigen. Der Klang ihrer Glocken wird vom Wind über Wälder, Felder und Wiesen getragen, und sie erzählen, dass diese Heimat bei aller Vergangenheit doch Zukunft haben wird.
Eine Landschaft wie ein Blumenstrauß
Nun stehen wir wieder hoch oben auf der Loreley. Blicken über das weite Rheintal, erinnern uns an die liebliche Lahn, die romantischen Bachtäler. Sind in Gedanken an Wälder, Wiesen und Felder, kleine Dörfer, kleine Städte. Blicken noch einmal auf ein weites, hügeliges, abwechslungsreiches Land, in dem das Auge nicht nur am Horizont Halt findet. Wie lange waren wir unterwegs? Eine Woche? Länger? Wir hatten die Zeit vergessen, uns in ein Wechselbad der Gefühle aus Vergangenheit und Gegenwart gestürzt. Das Schöne und die Schöpfung aufgesaugt und uns dabei selbst aufsaugen lassen.
„Der Weg ist das Ziel“, oder „Man reist nicht um anzukommen, sondern um unterwegs zu sein“. Diese Weisheit hat vielleicht nirgends so viel Gültigkeit wie hier. Die Loreley als Ausgangspunkt und Ziel unserer Reise – sie war ein klein wenig Zufall und sicherlich auch Ergebnis der Anziehungskraft und Magie ihres klangvollen Namens. Doch wir haben erkennen müssen, dass auch das weniger Bekannte tiefgründige Geheimnisse in sich birgt. Und so geriet jede Entdeckung zum reizvollen Abenteuer.
Die Politiker müssen ganz schön schlau gewesen sein, als sie diese drei Landschaften – Rhein, Lahn und Taunus (und natürlich auch das „bisschen“ Westerwald) – zusammenpackten in einen Landkreis. Als aus dem früheren „Unterlahnkreis“ und dem ehemaligen „Loreleykreis“ der 782 Quadratkilometer große „Rhein-Lahn-Kreis“ wurde. Doch diese Verwaltungsgrenzen interessieren bestenfalls die etwa 130.000 Einwohner in den 137 Städten und Gemeinden. Von weit größerer Bedeutung ist, dass hier landschaftliche Schätze und eine Fülle von Sehenswürdigkeiten und Denkmalen zusammengefasst, ja miteinander vereint wurden. Und in der Tat: Wir hatten uns bei unserer Reise sprichwörtlich „im Kreis bewegt“. In einem Kultur-Kreis, warm an Gastlichkeit, reich an Schätzen und bunt wie das zauberhafte Feuerwerk an der Loreley oder zwischen Lahnstein und Braubach. Wie ein Blumenstrauß, wenn der „Rhein in Flammen“ steht.
Nun heißt es Abschied nehmen vom zauberhaft schönen Mädchen Loreley, vom strengen Vater Rhein und seiner lieblichen Tochter Lahn, von Wald und Wasser, Land und Leuten. Und zum ersten Mal liegen Lust und Leid ganz dicht beieinander. Lust auf dieses Fleckchen Erde. Leid, abreisen zu müssen. Wir kommen wieder.