Ein wichtiges Prestigeobjekt für den Nassauer Herzog Adolph war die Errichtung zweier Eisenbahnlinien gegen Ende der fünfziger Jahre, die rechtsrheinische Eisenbahn und die Lahntalbahn. Beide Bahnlinien endeten in Oberlahnstein. Als erstes wurde die Lahntalbahn in Angriff genommen. Bereits am 1. Juli 1858 konnte die Strecke über 13 km von Ems nach Oberlahnstein eröffnet werden. Als die gesamte Lahnstrecke über Limburg und Weilburg bis Wetzlar im Jahre 1863 fertiggestellt war, hatte der aus Limburg stammende nassauische Baurat Moritz Hilf mit neun Brücken und 18 Tunnels ein technisches Wunderwerk vollbracht, das ihm europäischen Ruf einbrachte. Die Gesamtkosten der Bahnlinie beliefen sich auf 15 200 000 Gulden. Da sich die Bahn durch das Lahntal als der entscheidende Transportweg für die Lahnerze (Eisenstein) zu den Hochöfen und Hüttenwerken an Rhein und Ruhr erwies, bekam Oberlahnstein für die Anbindung an die preußischen Staatsbahnen eine besondere Bedeutung. Denn auch die preußische Regierung erkannte die Bedeutung dieser Bahnlinie, weil nun auch die Erze aus dem preußischen Wetzlar schneller und kostengünstiger transportiert werden konnten. Die teils erheblichen Schleusenkosten konnten eingespart werden; außerdem war der Bahntransport sicherer, weil man nicht mehr auf die Wasserstände der Lahn Rücksicht nehmen mußte, die nur 4 -5 Monate im Jahr für Lastschiffe voll nutzbar war. Andererseits brachte die neu errichtete Eisenbahn aber den Niedergang der Schiffahrt mit sich, was sich auf die Niederlahnsteiner Erwerbsverhältnisse verheerend auswirkte, weil fast der ganze Ort von der Lahnschiffahrt lebte. Deshalb beschloß der Niederlahnsteiner Gemeinderat, der Regierung die Verhältnisse zu schildern und vor Augen zu stellen, daß die Schiffahrt durch die Erbauung der Eisenbahn bedeutend verloren hat … und mit dem Sinken dieses fast den ganzen Ort beschäftigenden Gewerbezweiges die Handwerker herabgekommen sind.
Nach der Fertigstellung der Strecke Rüdesheim – Oberlahnstein konnte die Rheintalbahn am 22. Februar 1862 auf der gesamten Strecke zwischen Wiesbaden und Oberlahnstein in Betrieb genommen werden. Während der Herzog 1863/64 in Oberlahnstein eine Eisenbahnbrücke über die Lahn bauen ließ, ließ die preußische Regierung in Pfaffendorf eine Eisenbahnbrücke über den Rhein bauen, zu der sie sich in einem Staatsvertrag vom 8. Februar 1860 verpflichtet hatte. Auch diese Brücke wurde 1864 fertiggestellt. Sie wurde nicht nur für den Eisenbahnverkehr genutzt, sondern auch (zunächst nur bei Ausfall der Schiffsbrücke wegen Hochwassers) für den Kutschenverkehr und Fußgänger geöffnet. Er war daher mit einem doppelten Planken-Deck und einem makadamisierten (geteerten) Eisenbahn-Deck ausgestattet. Am 3. Juni 1864 fand der große Akt der Verbindung der beiden staatlichen Eisenbahnen statt. Die 3,34 km lange Strecke von Oberlahnstein nach Koblenz wird eingeweiht. Von dieser Strecke lagen 1,54 km auf nassauischem Gebiet (bis zur Grenze zwischen Niederlahnstein und Horchheim) und 1,89 km auf preußischem Gebiet bis zum rheinischen Bahnhof Koblenz an der Fichelstraße. Der in Oberlahnstein erscheinende Anzeiger für das Herzogliche Amt Braubach schrieb damals: „Ab dem 15. Juni dieses Jahres wird zwischen den Bahnhöfen der herzoglichen Staatsbahn in Oberlahnstein eine Bahnlinie … auf der einen Seite und die Stationen des Deutschen Zentralvereins in Hamburg, Lübeck, Stettin, Berlin … In Dresden, Leipzig und Braunschweig hingegen wurde der direkte Personen- und Gepäckverkehr über Wetzlar-Gießen abgewickelt. Oberlahnstein wurde so zu einem wichtigen Eisenbahnknotenpunkt. Und so konnte der Lahnsteiner Anzeiger 1868 schreiben: Die größte Veränderung für Lahnstein kam jedoch mit der Eröffnung der rechtsrheinischen Eisenbahn, die die Stadt plötzlich zu einem Verkehrsknotenpunkt erhob. Am 27. Oktober 1869 wurde der Anschluss an die rechtsrheinische preußische Staatsbahn in Richtung Ehrenbreitstein – Neuwied hergestellt. In diesem Zusammenhang war auch der 1860 von der Nassauischen Eisenbahn erbaute Rheinhafen in Oberlahnstein als Umschlagplatz für den Güterverkehr von Bedeutung. Später wurde neben dem Hafen ein Rundschuppen mit 14 Lokschuppen für die Lokomotiven des Bahnbetriebswerks gebaut.
Nach der Annexion des Herzogtums Nassau durch Preußen 1866 wurden die nassauischen Eisenbahnen in die Kgl. Preußische Eisenbahndirektion Wiesbaden (ab 1. 1. 1867) übernommen. Zunächst jedoch mußte der Schienenoberbau der Lahntalbahn durch ein preußisches Pionier-Kommando wieder in Ordnung gebracht werden. In elf Tunnels waren auf Anordnung des nassauischen Herzogs die Schienen gegen den ausdrücklichen Einwand des Baurates Hilf zerstört worden in der Absicht, den Vormarsch der preußischen Truppen aufzuhalten.
Ein entschiedener Nachteil in der Bahnlinienführung war allerdings der, daß es keine durchgehende Verbindung von der Lahntalbahn zur linksrheinischen preußischen Staatsbahn gab. Deshalb mußten die Züge von der Lahn und zur Lahn in Oberlahnstein Kopf machen, wenn der preußische König von Koblenz zur Kur nach Ems fuhr. Die in Richtung Rüdesheim stehende Lokomotive wurde abgehängt und eine andere auf dem Lahngleis stehende vorgesetzt. Das war allerdings für die Honoratioren der Stadt jedesmal ein Anlaß, sich auf dem Bahnsteig zur Huldigung zu versammeln. Am 15. 7. 1868 berichtete der Lahnsteiner Anzeiger: Se. Maj. der König kamen gestern Abend mit dem 6-Uhr-Zug hier an, wurden von den Spitzen der Stadtbehörden sowie der Geistlichkeit u. den Kindern der Schwesterschule herzlich am Bahnhof empfangen und von einer Schülerin (Maria May) durch Ueberreichung eines schön gewundenen Bouquets nebst kleiner Ansprache begrüßt .
Eine tiefgreifende Veränderung erfuhr das Eisenbahnwesen im Bereich der Lahnmündung nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71. Die deutsche Reichsregierung und der Generalstab hielten damals eine direkte zweigleisige Eisenbahnlinie von Berlin nach Metz für unumgänglich. Im Zuge dieser Linienführung wurde 1878/79 die Hohenrheiner Eisenbahnbrücke gebaut und die Bahnlinie durch einen Graben zu dem am Nordrand der Stadt neuerrichteten Niederlahnsteiner Bahnhof geführt. Von dort hatte sie über die 1875-79 erbaute Horchheimer Brücke Anschluß an die in den gleichen Jahren vollendete Moselbahn. In der Folge konnte die Verbindungslinie von Niederlahnstein nach Koblenz über die Pfaffendorfer Brücke am 15.5.1880 stillgelegt werden. Sie wurde ab 1901/02 von der Coblenzer Straßenbahn als Rheinübergang benutzt. Da die Ost-West-Eisenbahnlinie strategischen Zwecken diente, erhielt sie im Volksmund den Namen Kanonenbahn. Mit der neuen Verbindungslinie über die Hohenrheiner Brücke war die beherrschende Stellung von Oberlahnstein aber auf Niederlahnstein übergegangen, das nun zum Knotenpunkt zweier wichtiger Durchgangslinien geworden war. Damals coursirten täglich 198 Personen-, Schnell- und Güterzüge aus vier Richtungen den Bahnhof Niederlahnstein, und zwar 59 vormittags, 74 nachmittags und 65 während der Nacht. 1905 wurden auf der Station Niederlahnstein 176 330 Fahrkarten verausgabt; versandt wurden 4 168 Tonnen Stückgut,
37 779 Wagenladungen. Durch den Bahnhofsneubau wurde die Bautätigkeit gefördert, neue Hotels entstanden in Bahnhofsnähe, und die Stadtverwaltung lockte durch Senkung der Gemeindesteuer weitere Bauwillige an.
Doch nicht alle mit der Entwicklung verbundenen Neuerungen wurden von den Reisenden als solche erkannt und angenommen. Als 1891 auf den Stationen der Kgl. Staatsbahnen Billetenknipser eingeführt wurden, und die gefährliche Arbeit der Fahrkartenkontrolleure, die während der Fahrt außen am Zug entlang von Abteil zu Abteil klettern mußten, in die Bahnhöfe verlegt und diese mit sogenannten Sperren ausgestattet wurden, gab es heftigen Protest. Noch 1894 wurden unaufhörliche Klagen über die am hiesigen Personenbahnhof in Folge der Bahnhofssperre geschaffenen Einrichtungen, welche zur Controle dienen sollen, geführt. Die Gitterabsperrung sei geradezu unwürdig und das Publikum belästigend. Zudem sei statt zweier nur ein Billetcontrolleur angestellt, der bei einer solchen Frequenz wie hier die Kontrolle unmöglich wahrnehmen könne. Das Kgl. Eisenbahnbetriebsamt in Wiesbaden wurde aufgefordert, Abhilfe zu schaffen.
In Oberlahnstein wurde der Rückgang durch die Verlegung der Haupteisenbahnverbindungen bitter beklagt: Der schöne große Personenbahnhof, auf dem sich früher Hunderte von Menschen drängten, wurde eine einfache Station, seine Gasthöfe werden nicht mehr von Fremden besucht, die mit großen, fremden Summen erbauten Privatwohnungen stehen leer, da die größere Anzahl von Eisenbahnbeamten anderwärts stationiert worden sind. Doch Oberlahnstein erhielt als Ausgleich einen Umladebahnhof, der nach Erweiterungen 1878 und 1885 in den Jahren 1906/07 zu einem großen Güterbahnhof mit 16 Gleisen ausgebaut wurde. Jahrelange Verhandlungen der Stadtverordnetenversammlung und des Magistrats der Stadt mit der Königlichen Eisenbahnverwaltung waren dem vorausgegangen. Die beim Victoriabrunnen gelegene Wenzelskapelle, der dortige Bahnübergang, die Braubacherstraße und der Bahnübergang am Martinsschloß mußten verlegt, beseitigt oder ausgebaut werden. Anstelle des Bahnübergangs bei der Wenzelskapelle wurde südlich des Victoriabrunnens eine Bahnüberführung für Fuhrwerke und Fußgänger angelegt. Schon in den 80er Jahren waren eine Bahnbetriebswerkstätte und eine Bahnmeisterei eingerichtet worden. Im Jahre 1906 waren in Oberlahnstein 823 Personen bei den Eisenbahndienststellen beschäftigt, darunter neben 1 Oberbahnhofsvorsteher und 1 Bahnhofsvorsteher 54 Lokomotivführer, 66 Heizer, 57 Lokomotivputzer, 10 Lademeister, 71 Güterbodenarbeiter und 90 Hülfswärter und Arbeiter. Für die Bahnbediensteten war bereits 1899 durch die Eisenbahnverwaltung eine Volksbücherei eingerichtet worden, und schon 1891 hatten 400 Personen auf einer Versammlung den Konsumverein der Eisenbahnbeamten und -bediensteten gegründet.
Aber auch von schweren Unfällen, die glücklicherweise zumeist glimpflich verlaufen sind, war die Ausweitung des Eisenbahnwesens nicht verschont geblieben. Schon im Jahre 1863 hatte die Lahnsteiner Zeitung ihren Lesern ein schweres Unglück beim Bau der Rheinbrücke in Pfaffendorf gemeldet, bei dem acht Arbeiter den Tod in den Wellen gefunden hatten. Am 16. Juni 1906 berichtete das Lahnsteiner Tageblatt, daß die Eisenbahnüberführung südlich des Victoriabrunnens eingestürtzt sei. Gestern Nachmittag kurz vor 6 Uhr ist die Eisenbahnüberführung südlich des Victoriabrunnens eingestürtzt. Das Unglück geschah dadurch, daß von mehreren Güterwagen die vorderen zwei entgleisten und gegen die eisernen Stützpfeiler in der Mitte der Brücke rannten. Die Pfeiler gaben infolge des Anpralles nach und die Brücke stürtzte mit lautem Getöse in die Tiefe. Zwei Güterwagen wurden zerschlagen, die Trümmer der Brücke lagen quer über den Schienen … Der Personenzug nach Braubach war bereits von der Station abgelassen, ehe er die Ueberführung erreichte, geschah der Einsturz. Es handelte sich hier nur um kurze Minuten, daß nicht ein größeres Unglück passierte … Zwei Kinder hatten eben die Brücke verlassen, ein Fuhrwerk war gerade im Begriff, darüber zu fahren, als der Einsturz erfolgte. Und die Hochwasserkatastrophe des Jahres 1909 hatte nicht nur die Ufermauern und tausende Kubikmeter Böschung an beiden Ufern fortgerissen, auch die Eisenbahnbrücke über die Lahn war vom Einsturz bedroht. Heute vormittag zwischen 8 und 9 Uhr begann angesichts einer vielhundertköpfigen Menschenmenge die Eisenbahnbrücke zu wanken! Ein Personenzug und der Lloyd-Expreß hatten eben die Brücke passiert. Der mittlere Pfeiler war von den Fluten unterspült und neigte sich gegen den Stromlauf, so daß der Einsturz jeden Augenblick erwartet wurde. Wenn es auch nicht dazu kam, so war die Brücke doch so stark beschädigt, daß sie, nachdem Berliner Pioniere eine Behelfsbrücke angelegt hatten, abgetragen und durch eine neue – ohne Mittelpfeiler im Fluß – ersetzt werden mußte.
Auch im neuen Jahrhundert ist die Erwerbssituation in Oberlahnstein durch die Eisenbahn geprägt geblieben. Im Jahre 1913 verzeichnete die Stadtverordneten-Wählerliste bei 8716 Einwohnern 1560 nach dem damaligen Dreiklassenwahlrecht wahlberechtigte Oberlahnsteiner Bürger. Davon waren 655 Personen, d.s. 41 %, Eisenbahnbedienstete. Oberlahnstein war – nicht nur im Volksmund – zu einer Eisenbahnerstadt geworden.
s. H. Roth, Heimatjahrbuch des Rhein-Lahn-Kreises 2000