Seit dem Mittelalter waren Juden in Diez ansässig. Ein Abraham von Diez wird bereits 1286 und 1293 erwähnt. 1303 sind Juden als Bewohner von Diez bezeugt. Die Zahl der Juden war in Diez damals nicht sehr groß. Während der Pest-epidemien, die Europa periodisch heimsuchten, bekamen auch die Diezer Juden den allgemeinen Judenwahn zu spüren. In einer Zeit in der, der Aberglaube menschliches Denken stark prägte, bedurfte es nur eines kleinen Anstoßes, um die jüdische Bevölkerung für etwas, für das man keine Erklärung hatte, verantwortlich zu machen. Wenn man bedenkt, daß die Pest nur durch die katastrophalen hygienischen Verhältnissen des Mittelalters möglich war und man gleichzeitig weiß, daß dem Judentum durch seine Religion immer wieder rituelle Waschungen vorgegeben waren, könnte man fast von einer Ironie des Schicksals sprechen, wenn die Folgen für die Juden nicht so verheerend gewesen wären.
Von Beginn des 17. Jahrhunderts an waren die Diezer Juden Schutzjuden, die unter dem Schutz des Landesherren oder der Landesherrin standen. Dieser Schutz war für die Juden kostbar und teuer zugleich. In dieser Nische konnten sie mit ihren Möglichkeiten leben und einen gewissen Wohlstand erreichen, mit dem sie wiederum der Obrigkeit dienten. Insofern hatten die Juden von Diez eine Art Sonderstellung. Der Hoffaktor der Fürstin Amalie war ein gewisser Löb Heymann. Er ließ sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein Haus bauen, das heute noch erhalten ist. Daß die Juden damit nicht über die bürgerliche Freiheit verfügten, belegen die Judenordnungen, die das Leben der jüdischen Bevölkerung erheblich einschränkten. Die älteste bekannte Judenordnung für die Grafschaft Diez stammt aus dem Jahre 1682. Damals regierte eine der großen Frauen von Diez, Gräfin Albertine Agnes. Es folgten immer wieder neue Ordnungen. Hier einige Paragraphen aus einer Gesetzessammlung.
1. Niemand sollte mit Juden handeln oder Gemeinschaft haben, bey hoher Straf; auch sollte kein Jud auser der Grafschaft gesessen in solcher Gestalt darain kommen und Geleite haben. 1515.Aug.20. Dz.
13. Juden sollen nicht Sonn-und Feyertags ihrer Geschäfte wegen ausreiten, noch handeln, oder Schulden einfordern. Wenn sie doch eines Marktes wegen ausreiten müssen, sollen sie es dem Pastor anzeigen. Wenn ein Fremder kommt, ein Pferd zu kaufen, soll es an solchen Tagen im Stalle geschehen. Alles bey 6 Alb. Buse an die Kirche. 1654. Jun 6. H.
25. Juden sollen sich vor und unter den Predigten nicht auf der Gasse finden lassen. 1672 Jun. 18. Dz.
27. Wenn Kinder, Knechte und Mägde verheurathet werden, soll es in 14 Tagen, dem Beamten angezeigt, und wenn sie nicht Geleit für sich erlangen, die verheuratheten Kinder binnen einem Jahr, Knechte und Mägde aber in 6 Wochen weggeschaffet werden….. 1682, Aug. 21. Dz.
29. Jeder Schutzjud im Alleineigentum und in den Gemeinschaften hat jährlich pro recognitione 1 Goldgulden zur Canzley zu zahlen. 1682. Jan. 5. Dz.
30. Die Juden zu Diez müssen herkömmlich und bey 5 fl. Strafe alles Wachtöhl anschaffen. 1712. Nov. 18. Dz.
38. Obschon in der Verordnung vom 26. Aug. 1760. gegen Diebs- und anderes Gesindel, solches stillschweigend mit enthalten ist, auch die Reichs- Kreis- und gemeinen Gesetze, auch die Nassauische Polizey-Ordnung hierunter die nöthige Vorsehung thun, so wird dannoch den inländischen Schutzjuden ausdrücklich, und bey 20 Rthlr. oder bey Ermangelung eigenen Vermögens, bey vierzehntägiger unnachlässiger Schubkarren-Strafe verboten, fremde verdächtige Juden aufzunehmen. (S. Gesindel.) 1773. Oct. 28.
45. Kein Jud soll in Schutz in eine Stadt, ohne eigenes Vermögen von 500 Rthlern, und auf das Land, ohne dergleichen von 500 fl., an Geld oder Geldeswerth aufgenommen werden. Er muß es nicht nur bescheinigen, sondern auch beschwören, daß es sein wahres Vermögen und mit keinerley Schuld behaftet sey.
46. Eine ausländische in das Land einheurathende Jüdin aber hat, in eine Stadt 500 fl., auf das Land aber 300 fl. einzubringen.
47. Ein Judensohn darf ohne erhaltenen Schutzbrief, wenn gleich sein Vater in Schutz steht, nicht heurathen, sonst wird er mit seiner Angetraueten ausgewiesen. 17. Jan. 1770
63. Ferner wird denenselben erlaubet, bey ihren grosen feyertagen, zum Behufe ihrer selbsteigenen Consumzion, Vieh zu schlachten, und dasjenige, so sie, ihren Gesetzen nach, selbst nicht consumieren dürfen, anderwärts zu verkaufen. Jedoch ist in solchen Fällen nicht nur das zu schlachtende Vieh zuvor von den geschworenen Fleischbeschauern zu besichtigen, ob es gesund oder krank sey? sondern auch das zu verkaufende Fleisch zwey Pfennige wohlfeiler, als solches von den Mezgern verlassen wird, zu verkaufen. 17. Jan. 1770
76. Den Schutzjuden auf dem Lande wird nur allein der Viehhandel, und was hierzu gehörig, gestattet; und also haben dieselben sich alles Handels mit Krämerwaaren, ausser den öffentlichen Jahrmärkten, bey Strafe der Confiscazion zu enthalten. 17. Jan. 1770
86. Keinem Juden ist erlaubt, liegende Grundstücke eigenthümlich an sich zu bringen. Nur wird einem jeden Schutzjuden nachgelassen, ein eigenthümliches Wohnhaus, nicht aber mehrere zu besitzen. 17. Jan. 1770
Erst durch die Reformen von 1841 – 1861 durch Herzog Adolf von Nassau wurden aus den ehemaligen ‘kaiserlichen Kammerknechten’ freie Staatsbürger. Eine gesetzliche Gleichstellung war damit aber noch nicht gewährleistet. Diese sollte erst 1866 mit der preußischen Herrschaft in Nassau gewährt werden. Wenige Jahrzehnte blieben der jüdischen Bevölkerung sich in Freiheit zu entwickeln. Den latenten Antisemitismus, der zu diesem Zeitpunkt nicht mehr religiös, sondern rassisch begründet war, konnten auch diese Gesetze nicht beseitigen.
Diez war im vorigen Jahrhundert zeitweilig Sitz des Bezirksrabbinates, das aber bereits 1860 aufgelöst wurde. Der Bezirk Diez wurde dem von Ems zugeschlagen. In der Diezer Zeit wirkte hier der Rabbiner Dr. S.S. Wormser. Mit den von ihm angestrebten Reformen, zum Beispiel einer neuen Synagogenordnung, die eine bessere Zeit einleiten sollten, stieß er auf so wenig Gegenliebe bei seiner konservativ eingestellten Gemeinde, sodaß er 1852 seinen Wohnsitz nach Hadamar verlegte.
Die alte Synagoge in der Altstadt Straße, Nr. 36, diente von etwa 1760 bis 1863 als Gotteshaus. In dem noch erhaltenen Vorderhaus wohnten die jeweiligen Lehrer der Gemeinde, zuletzt der Lehrer Nehemia Alt. Alt war Lehrer und Kantor und damit Kultusbeamter. Als Kantor war er für die musikalische Seite des Gottesdienstes zuständig. Er stimmte die uralten Gesänge an den hohen Feiertagen an. Die Kantoren in den großen Synagogen hatten oft eine Ausbildung als Sänger. Der Lehrer aber hatte vor allen Dingen die Aufgabe die Knaben so vorzubereiten, daß sie an dem Fest Bar Mizwa angetan mit Gebetsmantel und Gebetsriemen einen Abschnitt aus der Tora vorlesen und daß sie nach dem Fest von Bar Mizwa den Gottesdienst offiziell mitfeiern konnten.
Die neue, 1863 in der Kanalstraße erbaute Synagoge, wurde in der Nacht des 9. Novembers 1938 innen völlig zerstört. Das ausgebrannte Gebäude wurde 1951 abgerissen. Heute erinnert nur eine Gedenktafel an den Ort, an dem sie stand. Viele Synagogen in Deutschland wurden 1938 in der sogenannten „Reichskristallnacht“, die man besser Reichspogromnacht nennen sollte, zerstört.
Eine Untersuchung von Thea Altaras hat ergeben, daß viele Synagogen nach 1945 Opfer geänderter Besitzverhältnisse und des allgemeinen Desinteresses wurden. Erst in den letzten Jahren ist eine gewisse Verantwortung dafür gewachsen, Synagogen, die als Gebäude noch erhalten sind, zu bewahren. Denn die Synagogen stellen ein Stück Kulturgut dar. Sie sind neben den Friedhöfen oft die letzten Zeugen für ein einmal blühendes jüdisches Leben in unseren Städten und Dörfern. Für viele ehemalige Synagogengebäude kommt dieser Gesinnungswandel, der verstärkt in den achtziger Jahren eingesetzt hat, zu spät.
Es gibt zwei Dokumente, die sich mit dem 9. November 1938 befassen. Das eine Dokument ist die Vollzugsmeldung über die „Erfolge“ in der Region.
SS – Sturmbann II/78 Limburg, den 11. November 1938
A u f z e i c h n u n g ! der Sonderaktion am 9.10. November 1938 im Gebiet II/78
A.) Synagogen
Gebäude in Limburg – ausgebrandt (7/78)
Hadamar – abgebrandt (7/78)
Frikhofen – vernichtet (7/78)
Kamberg /Ts. – vernichtet (7/78)
Diez – ausgebrandt (6/78)
Betstube Flacht – vernichtet (5/78)
Gebäude in Bad Ems – vernichtet (5/78)
Oberlahnstein – vernichtet (5/78)
Weilburg – vernichtet (8/78)
B. ) Zerstörte Geschäftsräume
L ö w e n b e r g , Konfektion Limburg
K ö n i g s b e r g e r , Schuhaus Limburg
S a c h s , Konfektion usw. Limburg
V a l l e n s t e i n , Lederwaren Limburg
B e r i n g e r Pferdehandel Limburg
L i p p m a n n , Pferdehandel Limburg
Sowie die Geschäfte der Umgebung von Limburg, welche jedoch dem Sturmbann nicht näher bekannt sind.
C. ) Einsatz der SS.
Um 17.oo Uhr wurde der SS-Sturm 7/78 auf Anforderung der Polizei
zum Schutz der Gebäude und der Geschäftsräume eingesetzt.
Ebenfalls wurde der SS-Sturm 5/78 und SS-Sturm 6/78 in ihren Gebieten eingesetzt.
Das andere Dokument sollte unnötiges Aufsehen in der Öffentlichkeit verhindern.
Am 11. November 1938 um 0..35 Uhr ging von der Polizei – Funkstelle Berlin – ein geheimes Telegramm an alle Polizeiverwaltungen heraus:
»sobald von gauleitungen anweisung zur beendigung der aktionen vorliegt, dafür sorgen, dass zertrümmerte läden durch holzverkleidungen u. s. w. verschlossen werden, daß zerstörungen möglichst wenig sichtbar, hausbesitzer anweisen, gegebenenfalls arbeiten im auftrage der polizei ausführen lassen. trümmer von synagogen u. s. w. beschleunigt beseitigen lassen.
In Diez gab es ein jüdisches Kinderheim. Es war Zeugnis eines gewachsenen sozialen Gewissens. Im Frühjahr 1888 hatte der Religionslehrer S.Lomnitz einen Antrag auf Eröffnung eines israelitischen Waisenhauses auf dem Dienstweg über den Königlichen Schulinspector Pfarrer Jäger an die Regierung Wiesbaden gestellt. Dieser hat das Vorhaben befürwortet, so daß die Arbeit beginnen konnte. Das Heim auf dem Schloßberg hatte Platz für 40 Buben. Die Zahlen schwankten. Das Haus wurde von dem Ehepaar Kadden und den Töchtern Berta und Bianca geleitet. In den zwanziger Jahren kam zu besonderen Anlässen und an Feiertagen eine Familie Goldschmidt aus Frankfurt angereist. Dann wurden die Tische besonders festlich gedeckt. Normalerweise wurden Knaben im Alter zwischen 6 und 14 Jahren aufgenommen. Diese konnten aus ganz Deutschland kommen. In Ausnahmefällen fanden auch jüngere Kinder Obdach. Es waren Halb- und Vollwaise. Jungen, die das Gymnasium besuchten, durften auch länger bleiben. Der Stil war streng und die Zucht hart. Darin unterschied sich das Haus sicher nicht von anderen ähnlichen Einrichtungen jener Zeit.
Weil es ein jüdisches Waisenhaus war, pflegte man auch die jüdischen Traditionen. Das Haus hatte einen eigenen Betraum, in dem sich die älteren Schüler mit dem Lehrer Bettmann zum Gottesdienst versammelten. Für das Laubhüttenfest hatte man eine Laubhütte. Am Pessachfest gab es Mazzen. Und selbstverständlich wurde auch die Sabbatruhe eingehalten. Die Hausmädchen waren in der Regel christlich. Aber auch sie standen unter der strengen Aufsicht des Hausvaters.
Im August 1935 wurde das Heim geräumt. Zuvor war es zu erheblichen Unruhen vor dem Haus gekommen. Es gibt einen Bericht über die dramatischen Stunden, den ein Betroffener aus der Erinnerung aufgeschrieben hat.
Efraim Benhar: Der Herzenswunsch
September 1935. Jener Montag war ein gewoehnlicher Montag, oder so hatten wir gedacht. In Paaren, wie an jedem Tag, standen wir vor der Ture des Speisesaals und warteten auf das Zeichen hinein zum Abendessen zu gehen. Die Tische waren in U-Form aufgestellt; am oberen Teil sassen die Erwachsenen. Jeder setzte sich auf seinen Platz und wir warteten, biss Herr Bettheim den Segensspruch betete, auf den wir „Amen“ antworteten. Die Erwachsenen waren die Leitungsfamilie: Herr Kadden, etwa 65 Jahre alt, seine Frau und deren zwei Tochter. Die altere, Blanka war mit Herrn Bettheim verheiratet und Blanka’s Schwester Berta, die wir Tante Berta nannten, noch Jungfrau, hoch und dunn. Die Bettheims hatten keine Kinder, auf jeden Fall sahen wir keine im Kinderheim. Zu diesem Personal gehorte auch Heinrich Felsen, etwa 28 Jahre alt, der als Erziehungspraktikant wirkte. Etwa 6 – 8 christliche Maedchen und Frauen waren das Hilfspersonal. Darunter Christine die schon 8 Jahre im Heim arbeitete.
Das „Israelitische Kinderheim“ in Diez an der Lahn war eine Erziehungsanstalt fur Knaben, 6 bis 15 Jahre alt, die aus gebrochenen Juedischen Familien kamen oder Waisenkinder waren. Meine Mutter war mit einem Christ verheiratet, scheinbar Grund genug um mich nach Diez zu schicken. Das geschah 1931, als ich 5 Jahre alt war.
Das Kinderheim lag in einem ziemlich eindrucksvollem Gebaude, drei Stockwerke hoch und am Saum eines Waldes. Hinter dem Wald lagen Felder, durchschnitten von der Lahn. An der Hinterseite des Heims befand sich einer kleiner abgezaunter Garten mit Obstbaumen.
Die juedische Lebensart im Heim war streng konservativ. Zwar gingen wir im Haus ohne Kopfbedeckung und kussten nicht die „Mezuza“ beim Eintritt in ein Zimmer. Aber dreimal am Tag mussten wir beten und am Samstag und an den Feiertagen gingen wir in die Synagoge in der Stadt.
Wir waren noch beim Essen, als eines der Maedchen in den Saal kam. Ihr Gesicht verriet grosse Aufgeregtheit. Sie wandte sich an Frau Bettheim und flussterte ihr etwas zu und beide verliesen den Saal. Herr Bettheim klopfte mit seinem Loeffelchen ans Glass, ein Zeichen dafur, dass jetzt das Dankgebet gesprochen wurde. Jedoch noch bevor der Segensspruch „und baue bald Jerusalem, die heilige Stadt“ ankam, kam Blanka zuruck, ihr Gesicht fahlbleich und wandte sich an Ihren Mann. Der unterbrach das Gebet, horte seiner Frau zu, stand auf und kundigte an, dass wir alle sofort den Saal verlassen sollen und uns im Schlafsaal A konzentrieren sollen. Der befand sich ein Stockwerk hoher. Er sagte auch, dass wir kein Licht in den Saalen anmachen durften, nur in den Zimmern, die sich nach hinten befanden.
Wir hatten bis jetzt keine Ahnung was los war, doch sobald wir den Essaal verliesen, konnten wir schon das Geschrei von der Strasse her horen, Geschrei ohne die Worte zu verstehen. Mein Bruder Horst, 8 Jahre alt, ging vorsichtig an ein Frontfenster, schob leicht den grossen Vorhang beiseite und konnte seinen Augen nicht glauben. Ungefahr 200 Menschen, Manner, Frauen und Kinder standen auf der Strasse und dem Trottoir und riefen laut in Richtung des Kinderheims. Einer schrie: „Wer muss raus aus Diez?“ und die Menge schrie: „Die Juden“. „Wer stielt unser Geld?“ und der Mob: „Die Juden“.
Wir bekamen Angst. Die christlichen Frauen versuchten uns zu beruhigen. Sie bantragten uns im hinteren, von den Fenstern entfernten Teil des Schlafsaals auf die Betten zu setzen. Da sassen wir jetzt, 5 – 6 Kinder auf jedem Bett in bedruckendem Schweigen. Durch die offene Tur konnten wir Herrn Bettheim horen, der am Telefon die Polizei drangend um sofortige Hilfe bat. Jedoch es schien uns, dass die Polizei sich nicht so sehr beeilte. Die Minuten schienen uns wie Stunden.
Die Menge war inzwischen bedeutig gewachsen und ein Teil deren war auch in den Hinterhof unseres Heims eingedrungen.
Der Hinterhof. Ich hatte ihn so gern. Wir spielten dort fast jeden Nachmittag, nachdem wir unsere Hausarbeit hinter uns hatten. An einem Ende stand ein Pingpongtisch. Ich war ein guter Pingpongspieler. Nur vor einem Monat, wahrend der Sommerferien, hatten wir ein Turnier und ich errang den zweiten Preis in meiner Altersgruppe. Irgend jemand hatte mich fotografiert und als nach zwei Wochen die Photos ankamen, beteuerten sogar die Alteren, dass Ich in meiner Spielerpose so professionell aussah.
Doch wir liebten den Hinterhof auch, weil man sich von dort aus ziemlich leicht in den anliegenden Obstgarten stehlen konnte. Der Obstgarten gehorte dem Heim und nur unter Aufsicht eines Erwachsenen oder einer der altesten Zoglinge waren wir erlaubt hinein zu gehen, um dort zu arbeiten. Es wuchsen dort Apfel-, Birnen- Pflaumen- und Kirschenbaume, alle fruchttragend. Ich weis nicht warum, aber mich verfuhrten hauptsachlich die Beerenstraucher und ins besondere die Stachelbeeren. Der Garten war mit einem nicht sehr hohen Zaun umgeben, der mit Leichtigkeit uberspringbar war. Jedoch dem unbefugten Eintritt in den Garten drohten die grossen Fenster im zweiten Stock. Dort auf der rechten Seite war die Kuche; auf der linken befand sich das Kontor der Verwaltung. Diese Fenster waren nachmittags immer geschlossen, vielleicht um den Larm der Kinder im Hof abzuschwächen. In den Fensterscheiben spiegelten sich Sonne und Schatten in einer Art, die es sehr schwer machte ein jeweiliges Paar von Augen dort oben zu erkennen.
Es war schwer der Verfuhrung zu widerstehen und wir konnten es nicht. Zwei, drei Kinder waren auf der Wacht, dann sprang einer hinuber, riss schnell eine Handvoll von Beeren vom Strauch und war auch blitzschnell wieder zurueck. Warum Beeren? denn die waren am nachsten zum Zaun. Die mehr tapferen kamen mit zwei Birnen oder einer handvoll mit Kirschen zuruck.
Der Larm draussen hatte sich verstarkt. Mit grossen Steinen hammerte man draussen auf die schweren Turen des Haupteingangs. Die wutende Menge schrie jetzt von allen Seiten. Und ein neuer Kampfruf hatte sich den vorigen angefugt: „Wer vergewaltigt unsere christlichen Maedchen?“ und die Antwort: „Die Juden.“
Christine, die mit uns sass, weinte und sagte: „Das ist eine Luge.“ Ich verstand nicht so genau was die Luge war. Die anderen Maedchen weinten auch.
Nach einer halben Stunde, die wie eine Ewigkeit schien, klingelte es an der Fronttur und die Polizei meldete sich an. Tante Berta schaute durchs Auge und vergewisserte sich, dass es wirklich die Polizei war. Sie liess die beiden herein und schloss schnell die Tur wieder zu. Sie wurden in die Familienwohnung geleitet. Die Anwesenheit der Polizisten hatte keinen Einfluss auf das Geschrei draussen, aber das Hammern mit den Steinen auf die Tuer hatte aufgehört.
Ich musste auf die Toilette. Diese waren im Hinterteil des Stockwerks und Ich hatte Angst allein dorthin zu gehen. Ich wollte aber meine Angst nicht zeigen. Ich bat also Isi mit mir zu kommen. Der aber erklarte er brauche nicht aufs Klo. Mein Bruder Horst, der uns horte, voluntierte mitzukommen. Am Ende des Korridors war ein grosses Fenster. Wie auf Befehl buckten wir uns beide; und dann am rechten Ende, zwei Stufen hoher, war unser Ziel. Wir wagten naturlich kein Licht anzumachen und tasteten fur unser Bedurfniss im Dunkeln. Horst, der mutigere von uns, piekte durch das kleine Fenster aus der Toilette auf den erlichteten Hinterhof. Ungefahr 60 Menschen standen dort und schrien in Unison. Er sagte mir dann, dass die Leute nicht so ärgerlich aussahen. Er sah einige die sich unterhielten und sogar lachten.
Nach wenigen Minuten waren wir wieder im Schlafsaal.
Zehn Minuten waren vorbei gegangen. Die Polizisten erschienen jetzt im Korridor, begleitet von der Verwaltungsfamilie. Blanka kam hinauf und teilte uns mit, dass wir jetzt evakuiert und unter dem Schutz der Polizei ins Stadthaus gebracht werden. Jedes Kind sollte einen Sweater oder eine Jacke anziehen und sich dann nach unten auf den kleinen Korridor hinter dem Haupteingang begeben. Einige von uns versuchten schnell ein Spielzeug oder zwei oder die Zahnbuerste mitzunehmen. Doch wir wurden befohlen sofort nach unten zu kommen. Hier wurden wir zu drei aufgestellt, die Kinder vorne, die Erwachsenen hinten. Der Hauptmann in der Front, der zweite Polizist am Schluss.
Die grosse Tur ging auf. Laut Plan hatten wir erst die 5 Stufen hinunter, darin ungefahr 10 Meter bis zum Eisenzaun und hinaus durch das Tor und dann rechts in die Schlossberg-Allee, etwa 600 Meter hinunter und ueber die Schlosstreppe zum Stadtplatz. Der Hauptmann fing an zu gehen, seine grosse Taschenlampe leuchtete auf die Demonstranten. Aber die Kinderkolonne bewegte sich nicht. Wie mit Nageln befestigt standen die Kinder und ruhrten sich nicht. Die Angst von der drohenden Menge hatte sie uberwaltigt. Der Hauptmann drehte sich um und kam zuruck. Er erkannte Christine und rief sie zu sich: „Komm hier nach vorne.“ Sie stellte sich in die erste Reihe und sagte: „Kommt Kinder, habt keine Angst, keiner wird Euch was tun.“ Sie gab Horst die Hand und fing an zu gehen. Da fingen auch die anderen an zu gehen.
Die Baume der Allee versteckten zum Teil die Strassenbeleuchtung. Mehr als wir sie sehen konnten, spurten wir den Atem der Menge, die jetzt wie auf Befehl stumm war. Es war dieses Schweigen, das so haarstraubend war. Du konntest das Rauschen der Menge darnehmen, fast so wie im Wind gewegtes Getreide. Aber Du hattest keine Ahnung was der nachste Augenblick mit sich bringen kann. Mit jeder Bewegung des Lichtkegels von der Lampe des Polizisten schienen die Leute auf dem Burgersteig vorwarts und ruckwarts zu wiegen. Hier und da musste der Hauptmann einige mit einem strengen Ruf auf die Seite kommandieren. Und dann waren wir dort.
In einem sehr grossen Saal, rundherum mit Stuhlen versehen, sassen schon einige judische Familien die, wie sich herausstellte, aus ihren Hausern vertrieben worden waren. Ich erkannte sofort die Familie des Kantors aus der Synagoge mit seinen zwei Tochtern und Herrn Nadler, der Viehhandler war. Und Mordehai Levi mit seinen Eltern und Geschwistern. Mordehai war Horst’s bester Freund. Die Levis waren Ostjuden und Horst sehr oft bei ihnen zu Tisch eingeladen. Mutter Levi machte ja so wunderbaren gefullten Fisch.
Horst wandte sich an Mordehai. Er war irgendwie beklemmt und konnte seinen Eltern nur schwer in die Augen schauen.
„Was ist den Diezern geschehen, dass sie uns sowas aufeinmal antun?“ fragte Mordehai. Horst hatte keine Antwort, aber er sagte: „Kannst Du dich erinnern wie vor kurzem in der Schule ein separater, kleiner Teil des Hofs fur die jüdischen Schuler mit weisse Kreide abgegrenzt wurde? Das ist wahrscheinlich irgendwie damit verbunden.“
„Aber die christlichen Schuler spielten doch mit uns wie vorher trotz dem Kreidenstrich.“
„Natürlich, das sind nicht die Kinder. Das sind die Erwachsenen. Warum erschien dieses Jahr der Schulleiter zum ersten Mal in der Schule in Naziuniform?“
„Was glaubst Du wird morgen geschehen?“ fragte Mordehai.
„Ich habe keine Ahnung, Ich nehme an, dass man uns zuruck in unsere Hauser schicken wird, nachdem man den Einwohnern klar machen wird, dass wir ihnen nichts Boses angetan haben.“
Es wurden jetzt Brotchen und Tee verteilt, aber viele versuchten einzuschlafen. Es war schon nach Mitternacht. Weitere judische Familien kamen an.
Horst wusste nicht wie lange er geschlafen hatte als ihn ein Larm weckte, der von draussen eindrang. Es waren Motore von drei Autobussen die eben angekommen waren. Es war halb sieben in der Fruhe. Durch die grosse Scheibe die zur Strasse blickte, konnten man Burger sehen, die zur Arbeit eilten, als ob gestern Nacht nichts geschehen ware. Zum ersten mal spielte Horst mit dem Gedanken, dass wir vielleicht doch von Diez vertrieben werden konnten. Bald waren alle im Zimmer wach. Es wurden Kaffee und frische Brotchen gebracht, die Kinder erhielten Kakao. In einer der Ecken sassen Herr Kadden und seine Familie. Jetzt kamen zu ihnen zwei Herren, einer davon war der Burgermeister. Nach wenigen Minuten des Gesprachs wandte sich der Burgermeister an die Anwesenden. Mit gewogten Worten entschuldigte er sich uber was gestern Nacht geschehen war und dass alles ein betrauenswerter Irrtum sei. Er fugte hinzu, dass jetzt alle nach Frankfurt gefahren wurden, jedoch ware er sich sicher, dass der Tag nicht weit sei, wenn alle judischen Einwohner aus Diez wieder zuruckkehren wurden.
Ich wollte mit meinem ganzen Herzen dass es so wirklich sein wurde.
Rehovot 1990
Die Kinder wurden nach ihrer Vertreibung in Heime in Köln und Frankfurt verschickt. Den Auszug der Kinder aus Diez haben ältere Bewohner der Stadt noch vor Augen. Ich weiß nicht warum, aber mir fällt der Name Janusz Korczak ein. Es gibt schlimme Äußerungen zu diesem Exodus.
In der Presse liest sich der Vorgang so:
„Ein jüdisches Erziehungsheim in Diez an der Lahn, in welchem vor allem Waisenkinder und Halbwaisen untergebracht waren, wurde, nachdem es vor dem Gebäude zu Sprechchören und Demonstrationen gekommen war, von der Polizei geschlossen und die etwa 50 Insassen zu ihrem Schutz unter polizeilicher Deckung nach auswärts abtransportiert.“
Daß es den Versuch einer Rückführung gab, belegen die Akten im Stadtarchiv Diez. Der Vorsitzende der Stiftung wurde deshalb bei dem damaligen Bürgermeister von Diez vorstellig. Der Versuch aber war vergeblich wie die folgenden Akten aus dem Stadtarchiv Diez deutlich machen.
Zunächst eine Aktennotiz von Bürgermeister Baumann vom 27.9.1935:
Die Besprechung mit Herrn Professor Dr. A. Freimann hat am 24. September 1935 in Anwesenheit seines Sekretärs stattgefunden. Herr Dr. Freimann kam mit der Anfrage, ob es denn nicht möglich sei, daß die Insassen des Kinderheims ihr Diezer Heim wieder beziehen könnten.
Hierzu gab ich Herrn Dr. Freimann zu verstehen, daß die allgemeine Mißstimmung gegen die Juden ihm ja bekannt sein müsse, so daß hierüber Meinungsaustausch überflüssig sei. Dagegen wolle ich nicht versäumen, ihn auf den besonders starken nationalsozialistischen Einschlag der Stadt Diez aufmerksam zu machen. Die Stadt Diez sei durch die Nationalsozialistische Erziehungsanstalt, den nationalsozialistischen Arbeitsdienst, das Nationalsozialistische Kraftfahrkorps, sowie die viele dort untergebrachten Parteiorganisationen wie Kreisleitung der NSDAP und Beauftragter der NSDAP., Verwaltungsstelle 38 der Deutschen Arbeitsfront, Kreiswaltung der NSV., Kreiswaltung der NS.-Kulturgemeinde, Kreiswaltung der NS.-Gemeinschaft „Kraft durch Freude“, Sturmbannbüro der SA III/261, NS.-Frauenschaft Kreiswaltung eine Pflegestätte der nationalsozialistischen Weltanschauung, was natürlicherweise bei Würdigung des kleinstädtischen Charakters der Stadt Diez starke Gegensätze gegenüber den jüdischen Staatsangehörigen ergeben würde.
Daß ich dem israelitischen Kinderheim wie bisher den notwendigen polizeilichen Schutz angedeihen ließe, sei selbstverständlich. Jedoch sei dieser polizeiliche Schutz nicht nur in Anwendung auf die jüdischen Staatsangehörigen, sondern auch in Anwendung auf die deutschen Staatsbürger begrenzt, denn bei stärkster Aufmerksamkeit der Polizei würde es dieser nie gelingen, Leben und Gesundheit jedes einzelnen Staatsbürgers vor den täglichen Gefahren des öffentlichen Lebens unbedingt zu schützen. Herr Dr. Freimann schien für diese Auffassung Verständnis zu haben.
Hieraus ergab sich sodann die Frage, was aus dem Gebäude des Kinderheims werden solle, worauf ich erklärte, ich könnte mir die anderweite Verwendung das Gebäudes, wie beispielsweise als Heim und Schule für die NS.-Schwesternschaft usw. denken. Es könne auch möglich sein, daß eine mietweise Verwertung über kurz oder lang in Frage käme.
Herr Dr. Freimann stand nach meiner Auffassung diesen kommenden Entscheidungen absolut nicht ablehnend gegenüber.
Diez/Lahn, den 27. September 1935
Baumann
Bürgermeister
Am 2. Oktober 1935 meldet der Landrat an den Regierungspräsidenten;
Der Landrat Diez, den 2. Oktober 1935
An den
Herrn Regierungspräsidenten
Wiesbaden
Betr.: Jüdisches Kinderheim in Diez/Lahn
Dort. Aktenz.:
In vorstehender Sache hat am 24. September 1935 eine Besprechung des Vorsitzenden des Israelitischen Kinderheimes e.V. mit Bürgermeister Baumann, Diez/Lahn stattgefunden.
In der Anlage übersende ich Abschrift einer Verhandlungsniederschrift.
Die Verhandlung hatte das Ergebnis, dass Professor Dr. Freimann zum Ausdruck brachte, unter den gegebenen Verhältnissen von der Rückführung der Kinder nach Diez Abstand nehmen zu wollen. Der Entschluss scheint endgültig zu sein, da bereits zwei Tage später die polizeiliche Abmeldung der Kinder durch den Vorsitzenden des Kinderheimes nach Frankfurt/Main erfolgte.
Über die Verwaltung des Kinderheimes sind Verhandlungen eingeleitet, über deren Stand ich zu gegebener Zeit berichten werde.
N.N:
stellv. Landrat.
Wiedervorlage sofort.
Wie die Stimmung in diesen Jahren war dokumentiert ein Eintrag in die Chronik der Hindenburgschule Diez:
Schuljahr 1935/116
Die Hindenburgschule wurde bisher von Kindern aus dem jüdischen Kinderheim beschickt. Das Heim war ursprünglich als Waisenhaus gedacht. Nach der Revolution wurde es mehr und mehr Aufnahmeheim für Judenkinder, die auf dem Lande wohnten, uneheliche Judenkinder von Frankfurt a M. Der Zustand war auf die Dauer unhaltbar. Zuletzt besuchten 38 Judenkinder von auswärts die hiesige Volksschule. Dieser Zustand erregte den Unwillen der nationalen Verbände. In einer Eingabe vom 22.5. wurden die vorgesetzten Dienststellen auf die sich daraus evtl. ergebenden Folgerungen aufmerksam gemacht. Die vorgesetzten Dienststellen planten demzufolge eine jüdische Zentralschule in Diez. Im Juli setzte auch in hiesiger Gegend die Judenaktion mit erneuter Schärfe ein. Örtliche Geschäfte verweigerten den Verkauf an Juden und gaben ihrem Willen durch Anbringung von Zetteln Ausdruck. „Juden hier unerwünscht“. Diese Aktion wirkte sich auf die Schule aus. Die Schuljugendwarte erklärten dem Schulleiter, die Eltern weigerten sich, ihre Kinder weiter an die Schule zu schicken. N.S. Verbände gaben ihrem Unwillen Ausdruck, daß deutsche Kinder mit Judenkindern zusammen unterrichtet würden. Kreisschulrat, Landrat und Bürgermeisteramt wurden auf diesen Zustand aufmerksam gemacht. In gemeinsamer Besprechung auf der politischen Kreisleitung wurde die Notwendigkeit erkannt, die auswärtigen Judenkinder aus der Diezer Volksschule zu entfernen. Der Kreisschulrat J. sprach bis zur endgültigen Regelung die Beurlaubung sämtlicher Judenkinder aus. So geschehen am 13.August. Für die Schule bedeutete es ein Fest, den Unterricht nach den großen Ferien, ab 16.Juli ohne Judenkinder beginnen zu können. Bei der gemeinsamen Flaggenhissung wies der Schulleiter besonders daraufhin. Er forderte die Schulkinder auf, sich aktiv in die Judenaktion einzureihen, indem auch sie kein Judengeschäft mehr betreten sollten.
Am 17.8. abends in der Dunkelheit demonstrierte eine große Volksmenge vor dem israelitischen Kinderheim und forderte den Wegzug der Juden. Schon am nächsten Tage wurden die Insassen mit Autobussen nach Frankfurt gebracht.
Hoffentlich sind wir sie für immer los.
In der Judenfrage darf es keinen Kompromiß geben. Sie sind Deutschlands Unglück von jeher gewesen.
Nach dem Krieg kommt es noch zu einem Schriftwechsel zwischen dem von der Besatzungsmacht eingesetzten Bürgermeister Heck und dem ehemaligen Schüler der Schloßbergschule und Bewohner des Waisenhauses, Max Wolf.
An den Bürgermeister in Diez a.d. Lahn
Als ehemaliger Zögling des Kinderheimes in der Schlossbergstrasse 23 bitte Sie frdl. um folgende Auskunft: Wer ist z..Zt. in dem Heim. Ist es zerstört worden. In welcher Zone liegt es. Wer ist der Besitzer.
Ferner bitte ich, wenn es Ihnen möglich ist, mir einen genauen Bericht zu geben, was es in der schlimmsten Zeit mit den Kindern gegeben hat. Herr und Frau Kadden sind im Lager Theresienstadt umgekommen, Herr und Frau Bettmann vermutlich in Auschwitz. Ich hoffe, bald von Ihnen zu hören und grüsse Sie freundlichst.
Der Leiter der Jüd. Gemeinde Darmstadt
13. 10. 46 Max Wolf
handschriftl. von anderer Hand:
Jahrgang 1911, ging mit mir in die Schloßbergschule,
Lehrer Schäfer, Grün, Ringshausen, Kaltwasser + dergl.
19. Oktober 46
Sehr geehrter Herr Wolf!
Beantwortung Ihrer Anfrage vom 13.10.1946, die mir heute zuging.
Da Sie dem Jahrgang 1911 angehören, dürfte ich Ihnen kein Unbekannter sein. Bis April 1933 war ich Bürgermeister von Diez. Ich habe die Familien Kadden und Bettmann persönlich sehr gut gekannt und stets in bestem Einvernehmen mit Ihnen gestanden. Ich wurde von den Nazis im April 1933 gewaltsam von meinem Posten vertrieben und in den Ruhestand versetzt.- Im Oktober vergangenen Jahres wurde ich wieder in mein Amt eingesetzt und vor 3 Wochen wiedergewählt. Die traurigen Vorgänge, die sich im Sommer des Jahres 1936 im Kinderheim abgespielt haben, fallen daher nicht in meine Amtsperiode. Die Inhaber des Kinderheims, Verwalter, Lehrer, Kinder, wurden in einer Nacht gewaltsam aus dem Kinderheim vertrieben und zunächst in einem Gasthaus am Marktplatz untergebracht. Von da wurden sie sämtlich nach Frankfurt/Main abgeführt. Was weiterhin mit ihnen geschah entzieht sich meiner Kenntnis. Das ehemalige Kinderheim wurde am 22. April 1937 durch notariellen Vertrag von meiner Stadt käuflich erworben. In ihm wurde dann die Volksschule untergebracht und dient zur Zeit der französichen Besatzungsbehörde teilweise als Kaserne und als Büroräume. Es ist noch vollkommen erhalten. Diez gehört zur französischen Besatzungszone. Ihre ehemaligen Lehrer, Ringshausen, Grün, Schäfer Kaltwasser, alle hochanständige und das Nazitum ablehnende Lehrer haben mittlerweile das Zeitliche gesegnet. Das, was Sie mir über die Familien Kadden und Bettmann mit geteilt haben, hat mich tief erschüttert. Ich werde sie stets in bester Erinnerung behalten. Zu weiteren Auskünften stehe ich Ihnen jederzeit gerne zur Verfügung.
Mit Versicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung
ergebenst H(eck)
Warum wird hier so umfangreich über das Waisenhaus berichtet?
Erstens: Es sind nur einige wenige Auszüge von der Dokumentation, die Diezer Bürger in den letzten Jahren gesammelt haben. Diese Arbeit hat letztlich dazu geführt, daß an dem Weg, den die Kinder und ihre Erzieher nahmen, eine Gedenkplatte angebracht wurde.
Zweitens: Wenn man es unternimmt von Friedhöfen und verlassenen Gebäuden zu berichten, läuft man Gefahr das Leben aus den Augen zu verlieren. Mit den Kindern wurde auch jüdisches Leben vertrieben. Aber die Schatten sind noch so lang, daß wir darin einstiges Leben erkennen können.
Das Waisenhaus wurde später abgerissen. Der Platz wurde beim Bau des Diezer Krankenhauses verwendet.
Der heute noch erhaltene jüdische Friedhof von Diez befindet sich auf dem Guckenberg am Fachinger Weg. Es gab noch einen älteren Anfang des 17. Jahrhunderts angelegten jüdischen Friedhof, der bis 1895 belegt wurde. „Die völlige Einebnung des sehr malerischen, altehrwürdigen, mit alten Bäumen bestandenen dreihundert Jahre alten Friedhofs ist heute in Diez völlig vergessen.“ Heute steht das Finanzamt auf diesem Gelände. Zur jüdischen Gemeinde gehörte auch noch der Friedhof von Balduinstein.
Der Weg:
Fachinger Straße Nr 6, neben dem Anwesen Walter, etwa zwanzig Meter unterhalb der Straße nach Fachingen.
Statistik:
1303
1765 21 Personen bzw. 4 Familien
1685 10 Familien
1812 13 Familien
1840 91 Personen
1871 121 Personen
1905 119 Personen
1910 124 Personen
1925 88 Personen
1933 68 Personen
1939 20 Personen
10.5.1943 1 Person